Nach dreiviertel Jahrhundert packten die Tschechen ihren Mut – sind wir deshalb alle Tschechen?

Sind wir alle Tschechen?

“Die Tschechen verdienen angesichts des postkolonialen Gebarens des russischen Staats Solidarität,” schreibt Ivo Mijnssen in der NZZ – “nous sommes tous les tchèques” macht eine Runde. Doch inwiefern sind wir Tschechen? Dazu noch wir alle? Mir wäre es lieber, wenn die Tschechen auch wir alle wären. Ein bisschen wäre nicht schlecht. Und vielleicht sind sie, sind wir es schon.

Die hiesigen (CH) Medien publizierten einiges dazu – Erinnerungen an den Einmarsch des Warschauer Paktes im August ’68, an die Sympathien vieler mit Slowaken und Tschechen und an all’ die, die im “Prager Frühling” den “dritten Weg” sahen. Auch wie viele Einheimische die ’68er Ankömmlinge als Bereicherung fanden und weiterhin finden.

All’ die im ehemaligen Ostblock, die mit dem noch allzu präsenten UdSSR-Erbe unzufrieden sind, erklärten sich mit den Tschechen solidarisch. Wie auch, kurz, die EU.

Wie kamen die Slowaken und Tschechen zu den UdSSR-Geheimdienstlern, und die zu ihrer mächtigen Basis für ganz Europa in Prag?

Edvard Beneš (1884-1948), vor dem Krieg und kurz danach Präsident der ČSR, hat ja 1943 in Moskau Josef Stalin (1878-1953) die Nachkriegs-ČSR “geschenkt”. Die UdSSR baute ihre Präsenz nach dem Krieg in allen “ihren” neu erbeuteten Territorien massiv aus. Auch in der ČSR.

Dass diese Präsenz auch die sowjetischen Geheimdienste umfasst, war von Anfang an ein offenes Geheimnis – wie es bis heute unter vielen anderen auch die besetzten Areale am Rande des Stromovka Parks in Prag Letná so stolz zur Schau stellen. Seltsam genug, dass auch nach der Wende 1989/90 diesbezüglich praktisch alles beim alten blieb.

Nach dreiviertel Jahrhundert, im April 2021, und über drei Jahrzehnte nach der Wende, packten die Tschechen ihren Mut und schmissen paar der russischen Geheimdienstler aus dem Land, nachdem nachgewiesen ein paar von ihnen 2014 ein Munitionslager an der Grenze zu Slowakei in die Luft gesprengt haben, samt paar Menschen dazu. Unter den Geheimdienstlern auch die, die russische Dissidenten ermorden.

Ob die Wende damit die alte Garde, die Privilegierten der Vorwendezeit, symbolisiert durch den alters- und vor allem krankheitsschwachen Präsidenten Miloš Zeman (1944-) doch erreicht hat? Nicht vergessen: die Kontinuität der alten Ordnung symbolisiert der Premier Andrej Babiš (1954-), ein alter StB-Kader (StB = tschechoslowakische Stasi) der die politische Macht zur persönlichen Bereicherung in vollen Zügen nutzt, wie es in Mittel-/Osteuropa immer noch gang und gäbe ist.

Doch die Nachwende-Kinder nagen an der neu/alten Ordnung. Wie erfreulich, dass die, im Vergleich zur alten Garde und ihrer Ordnung, Jüngeren angefangen haben mit der in Mittel-/Osteuropa allgegenwärtigen Korruption aufzuräumen – wie es die tschechischen Piráti im EU-Parlament belegen, in der Grüne/EFA Fraktion, mit weiteren, auch den deutschen Grünen.

Ein bisschen sind wir schon wir alle geworden.



NZZ-Beiträge von Ivo Mijnssen, April ’21

«Eine Umgebung, die vieles ermöglichte»: Der heftige Konflikt zwischen Russland und Tschechien dreht sich um Moskaus undurchsichtige Botschaft in Prag
Mit der Ausweisung von bis zu 70 weiteren Mitarbeitern will die tschechische Regierung Russlands Einfluss stark reduzieren. Der Geheimdienst sieht die riesige Vertretung als regionale Basis für Spione.

Ivo Mijnssen, Wien, 23.04.21
www.nzz.ch/international/krise-russland-tschechien-prager-botschaft-als-spionagenest-ld.1613389

Wenn Russlands Verhalten sogar Tschechien auf Konfrontationskurs zwingt, ist das ein Alarmsignal für ganz Europa
Der Konflikt der einstigen Bruderstaaten hat am Donnerstag einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Tschechen verdienen angesichts des postkolonialen Gebarens des russischen Staats Solidarität.

Ivo Mijnssen, Wien, Kommentar, 22.04.21
www.nzz.ch/meinung/tschechien-gegen-russland-ein-warnsignal-fuer-europa-ld.1613384

Mutmassliche Sabotage im Munitionslager und Giftangriffe von Moskaus Militärgeheimdienst: Tschechien geht auf Konfrontationskurs gegenüber Russland
Die Regierung in Prag erhebt happige Vorwürfe und weist 18 Diplomaten aus. Russland reagiert umgehend. Die Eskalation erfolgt zu einem politisch besonders heiklen Zeitpunkt.

Ivo Mijnssen, Wien, 18.04.21
www.nzz.ch/international/tschechien-geht-gegen-russlands-militaergeheimdienst-gru-vor-ld.1612529

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Author: vjr

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